Mythos 4: Aufschreiben, korrigieren, fertig!?

Was die Schule oft nicht lehrt

Die Schule vermittelt, dass Schreibaufgaben mit wenigen Schritten zu bewältigen sind: Kurz überlegen, aufschreiben, eventuell noch Rechtschreibfehler korrigieren und fertig. Mit diesem Standardablauf wollen wir erreichen, dass der Text sowohl gelesen als auch verstanden wird und dass seine Botschaft bei den Leser*innen ankommt. Das alles darf nicht allzu lange dauern, denn Schreiben haben wir ja alle in der Schule gelernt…

Aus meiner Sicht entspricht dieses Vorgehen dem einer Musiker*in, die gerne ein Musikstück in der Öffentlichkeit vortragen möchte. Das Repertoire ist aber begrenzt: Sie kann nur solche Stücke wählen, die sie nach zwei Mal Durchspielen in langsamem Tempo halbwegs beherrscht. Auf Interpretation und Ausdruck legt sie dabei wenig Wert, ebenso verzichtet sie darauf, flüssiger spielen zu können. Das kommt uns beim Musizieren merkwürdig vor, beim Schreiben halten wir den Minimal-Aufwand für Standard.

Dennoch hält sich die Vorstellung bis heute hartnäckig, wir seien mit dem Schreibunterricht aus der Schule für alle Schreibaufgaben in Ausbildung oder Beruf gerüstet. Die Auswirkungen sind oft gravierend, reichen von mangelndem Selbstbewusstsein bis zum Unterschätzen des Zeitbedarfs, den ein längerer Text benötigt. Viele entwickeln dadurch Schreibhemmungen oder gar eine „Aufschieberitis“ bzw. Prokrastination, die verhindert, dass sie sich als erfolgreiche Schreibende erleben.

Denn das Schreiben von Sach- und fiktionalen Texten ist komplex und erledigt sich nicht nebenher: Über die Idee denken wir mindestens nach oder recherchieren ausführlich Informationen dazu. Es kristallisiert sich das Thema heraus, das zu Beginn vielleicht noch vage war. Die Unterthemen entwickeln wir zu einer Gliederung, bringen die Aussagen oder den Ablauf der Geschichte in eine Reihenfolge.

Manche notieren sich von Anfang an Teile ihres Textes, andere beginnen erst mit dem Aufschreiben, wenn sie eine Gliederung gefunden haben. Während des Schreibens lesen die Autor*innen das Geschriebene immer wieder durch. Sie überprüfen, ob der Text einen roten Faden hat oder um Lücken zu finden und Gedanken, die nicht zu Ende geführt wurden. Damit ihr Text wirklich verstanden wird, setzen sie auf Feedback: Sie lassen ihn von jemand anderem aus der Sicht einer potentiellen Leserin, eines potentiellen Lesers begutachten. Und erst, wenn sie mit Inhalt, Form und Sprache zufrieden sind, lesen sie Korrektur.

Einen Text zu schreiben ist ein Prozess – und zwar einer mit vielen unterschiedlichen Teiltätigkeiten. Diese gleichen sich in den Hauptschritten. Jeder Menschen geht trotzdem auf seine Weise an das Schreiben heran. Schreiben ist so individuell wie ein Fingerabdruck. Gut zu schreiben heißt auch, den eigenen Schreibprozess zu kennen, wertzuschätzen und zu nutzen. Sich die Zeit zu nehmen, die es braucht, ist weder ein Zeichen von Schwäche noch Luxus. Sondern der Weg zum Ziel, damit aus einer Schreibaufgabe, einem Thema genau der Text wird, den ich mir vorgestellt habe.

(c) Sabine Staub-Kollera